FORSCHUNGSPROJEKT
EMERGENTES ERINNERN
Fragmentierte Syntax und textuelle Herstellung in Gegenwartsliteratur und
Oral History
gefördert von:
gefördert von:
Projektleiter:
Prof. Dr. Thomas Klinkert (Zürich, CH) und Prof. Dr. Stefan Pfänder (Freiburg i. Br, D)
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Projektbeschreibung
(For English version, please see below)
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Das Projekt untersucht die sprachliche Herstellung von autobiographischer Erinnerung in der Gegenwartsliteratur und in Oral-History-Interviews auf der Grundlage französischsprachiger Erinnerungserzählungen mit inhaltlichem Schwerpunkt auf der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Basis des literaturwissenschaftlich-linguistischen SNF-DFG-Projekts (SNF Lead Agency) ist die in der Gedächtnisforschung gewonnene Erkenntnis, dass die Erinnerung nicht nach dem Modell von Speicherung und identischer Wiederbereitstellung des Gespeicherten funktioniert (v. Foerster 1993), sondern als ein komplexer Prozess der (Re-)Konstruktion begreifbar ist, der bestimmten kognitiven, sprachlich-interaktiven und kommunikativen Rahmenbedingungen unterliegt.
Ausgangspunkt der Untersuchung des Erinnerns aus kombinierter sprach- und literaturwissenschaftlicher Perspektive ist die Feststellung, dass in autobiographischen Erinnerungserzählungen häufig eine spezifische Entwicklung stattfindet, die als allmähliche, sich herantastende Verfertigung der Erinnerung beim Erzählen (Emergenz) bezeichnet werden kann. Eine Versprachlichung, die sich nach und nach ihrem Ziel annähert, in der man also die Spuren der Formulierungsarbeit noch deutlich erkennen kann, ist prinzipiell kennzeichnend für mündliches Erzählen. Hier sind häufig Emergenzphänomene wie syntaktische Fragmente, Wiederholungen, Reparaturen, Parenthesen und Digressionen zu finden.
Auch die literaturwissenschaftliche Betrachtung erkennt in solchen Emergenzstrukturen grundlegende Textkonstitutionsverfahren, die sich in modernen, experimentellen Formen schriftlichen Erzählens manifestieren. Der gemeinsamen Arbeit von Linguistik und Literaturwissenschaft liegt die Prämisse zugrunde, dass solche Techniken und Strategien des Sich-Herantastens keinesfalls als Performanzdefizit zu verstehen sind, sondern dass diese Art und Weise des Erzählens für die narrative Produktion und Rezeption von Erinnerung konstitutiv ist. Im Herantasten produzieren die Erzähler lokal funktionale Teilstücke auf dem Weg zu ihrer Erinnerung. Diese Offenheit und Nichtabgeschlossenheit der Teilstücke ermöglicht die schrittweise Weiterentwicklung, partielle Revision und Elaboration der Erzählung mit der Möglichkeit einer späteren Präzisierung und damit der Emergenz von Bedeutung im allmählichen Fortschreiten des Prozesses syntaktischer Konstruktion.
Das zentrale Ziel des interdisziplinären Projektes besteht in der Darstellung des Erinnerns als eines sozial-interaktiven, sprachlich hergestellten Prozesses und in der Analyse des Inventars hierfür eingesetzter Verfahren und Techniken. Ein besonderer Mehrwert liegt darin, bislang unentdeckte Gemeinsamkeiten zwischen literarischen und mündlichen autobiographischen Erinnerungstexten herauszuarbeiten und dadurch grundsätzliche Rückschlüsse auf die emergente Struktur des Erinnerungsprozesses zu erlauben, soweit dieser sich in narrativer Form niederschlägt.
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English Version:
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Emergent Memory. Fragmented Syntax and Textual Construction in Contemporary Literature and Oral History
This project studies the language-based generation of autobiographical memory in contemporary literature and oral history interviews, on the basis of French language memory narratives focusing on World War II. The premise of the literary-linguistic project financed by the SNF and the DFG (SNF-Lead-Agency) is the insight, stemming from recent cognitive memory research, that memory does not function according to the model of storage and identical reaccessibility (v. Foerster 1993), but is rather envisionable as a complex process of (re-)construction, subject to a framework of certain cognitive, linguistic-interactive and communicative conditions.
The starting point of the analysis of memory from a combined perspective of linguistic and literary research, is the discovery that autobiographical memory narratives frequently feature a specific development, that may be termed a gradual, tentative composition of memory during narration (emergence). A process of verbalization that approaches its objective step by step, and in which traces of the elaborative effort are thus still clearly distinguishable, is generally characteristic of oral narration. Here, we frequently find emergence phenomena, such as syntactic fragments, repetitions, revisions, parentheses, and digressions.
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Literary theory, also, recognizes such emergence structures as basic processes of text constitution, which manifest in modern, experimental forms of written narration. The joint research of linguistics and literary theory is based on the premise that tentative techniques and strategies of this kind are in no way to be considered a performance deficit, but rather that this manner of narration is constitutive of the narrative production and reception of memory. In tentatively casting about, the narrators produce local functional ‘segments’ on the way towards their memory. The openness and open-endedness of these segments allows the incremental development, partial revision and elaboration of the narrative, with the possibility of subsequent refinement and the emergence of meaning in the gradual advancement of the process of syntactical construction.
The central aim of the interdisciplinary project is the representation of memory as a social-interactive language-based process, and the analysis of the repertoire of procedures and techniques adopted for this purpose. A special added value lies in bringing to light hitherto undetected commonalities between written and oral autobiographical memory texts, thereby permitting general inferences to be made regarding the emergent structure of the memory process, insofar as it becomes manifest in narrative form.